In der verfassungrechtlichen Auseinandersetzung mit der Vorratsdatenspeicherung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil 1 BvR 256/08 erläutert, dass die staatlichen Überwachungen und Speicherpflichten nicht nur einzeln betrachtet werden dürfen, sondern auch alle im Zusammenhang:
"Die Einführung der Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung kann damit nicht als Vorbild für die Schaffung weiterer vorsorglich anlassloser Datensammlungen dienen, sondern zwingt den Gesetzgeber bei der Erwägung neuer Speicherungspflichten oder -berechtigungen in Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen zu größerer Zurückhaltung. Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland"
Daraus leitet sich ab, dass der Staat vor der Einführung neuer Maßnahmen mit Überwachungsqualität einen Überblick über bestehende Maßnahmen braucht. Das ist leider seitens des Staates seit 2010 nicht geschehen. Im Parlament gab es im Februar 2021 dazu ein Anhörung mit folgenden Experten:
- Benjamin Bremert (Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein)
Er sehe in dem Urteil einen Arbeitsauftrag an den Gesetzgeber zur umfassenden Prüfung der Überwachungsgesamtsituation. Wie der konkret umgesetzt werden könne, müsse ausgearbeitet werden. Davon abgesehen sollte es seiner Meinung nach dem Selbstverständnis eines rechtsstaatlichen Gesetzgebers entsprechen, sich proaktiv für den Schutz von Grundrechten einzusetzen statt erst nach gerichtlichen Entscheidungen im Einzelfall zu reagieren.
- Prof. Ulrich Kelber (Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Bonn)
Bei einer Überwachungsgesamtrechnung seien wissenschaftliche Methoden und empirische Belastbarkeit nötig. Statt vorschnellen Rufen nach neuen Gesetzen, wenn denn ein Ereignis große Aufmerksamkeit erregt habe, sei zuerst eine Bestandsaufnahme notwendig. Abzulehnen seien insbesondere Maßnahmen, die in die Grundrechte eingriffen, ohne wirklich die Sicherheitslage zu verbessern.
- Prof. Dr. Markus Löffelmann (Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Berlin)
Der Begriff „Überwachungsgesamtrechnung“ beinhalte derzeit nicht mehr als eine vage Idee und sei ein programmatisches Schlagwort. Er eigne sich nicht, um aktuell notwendige Reformen im Sicherheitsrecht zu suspendieren. Er stelle auch keine Alternative zu notwendigen Grundrechtseinschränkungen dar, könne aber helfen, deren Verhältnismäßigkeit genauer zu bewerten, sagte Löffelmann.
- Prof. Dr. Markus Möstl (Universität Bayreuth)
Er lenkte den Blick auf das im Antrag angesprochene Sicherheitsgesetz-Moratorium, das sich etwa notwendigen Weiterentwicklungen der Überwachungsbefugnisse prinzipiell verschließe, solange bestimmte Bedingungen wie die Etablierung einer Überwachungsgesamtrechnung nicht erfüllt seien. Dies berge die Gefahr einer strukturellen Schutzpflichtverletzung staatlicher Organe infolge einer selbst auferlegten Untätigkeit, sollte es tatsächlich zu neuen Gefährdungslagen kommen, die zusätzliche Maßnahmen erfordern.
- Prof. Dr. Ralf Poscher (Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, Freiburg)
Am Ende solle ein Überwachungsbarometer erstellt werden, das einen Eindruck von dem Gesamtüberwachungsstatus durch die Sicherheitsbehörden vermittele. Aber natürlich könne auch die Entscheidung getroffen werden, nichts zu tun und weiter im „Überwachungsnebel zu waten“.
- Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz (Julius-Maximilians-Universität Würzburg)
Das in dem Antrag angestrebte Sicherheitsgesetz-Moratorium begegne durchgreifenden Bedenken, weil es im Ergebnis eine Selbstverpflichtung des Gesetzgebers zur Zurückhaltung begründen solle, die dem Wesen demokratischer Gesetzgebung diametral entgegengesetzt sei. Sowohl aus der Staatsaufgabe Sicherheit als auch aus den grundrechtlichen Schutzpflichten könnten Handlungspflichten des Gesetzgebers folgen, bei denen er bezüglich der Maßnahmen über einen weitreichenden Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum verfüge.
Sammlung von Überwachungsgesetzen seit 2010
Materialsammlung: Überwachungsgesamtrechnung bei digitacourage
Pilotprojekt Überwachungsbarometer der Friedrich-Naumann-Stiftung (FDP)
- 2022-01: Studie warnt vor Überwachung im Übermaß, das Freiburger Max-Planck-Institut (MPI) zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht hat im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ein theoretisch und empirisch unterlegtes Konzept entwickelt, mit dem sich eine Überwachungs-Gesamtrechnung operationalisieren lässt. Das vom MPI entwickelte Modell eines Überwachungsbarometers soll die reale Überwachungslast der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, und damit ihre Freiheitsbelastung, erfassen. Die Quantifizierung der Überwachungslast geschieht auf Grundlage einer Kombination der aktuell existierenden rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten (verfassungsrechtliche Perspektive) mit der realen Zugriffspraxis (empirische Perspektive). Finale Version, 56 Seiten, im Anhang ist eine tabellarische Übersicht über Datenart, Rechtsgrundlage, Datenführende Stelle / Speicherort / überwachende/zuliefernde/ zulief.-pflichtige Stelle, Abfragende bzw. verfahrensführende Stelle sowie Überwachungsziel
- 2021-03: ENTWICKLUNG EINES PERIODISCHEN ÜBERWACHUNGSBAROMETERS FÜR DEUTSCHLAND, Prof. Dr. Ralf Poscher und Dr. Michael Kilchling unter Mitarbeit von Dr. Katrin Kappler und Lukas Landerer, LL.M., Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, Abteilung Öffentliches Recht, 9 Seiten
- 2020-12: Studie zum Pilotprojekt
Überblickstabelle Überwachungsszenarien
Planungsstand
Quellen
- 2021-04-02, heise: Bundesregierung: Überwachungsgesamtrechnung ist überflüssig
- 2021-04, Gutachten "Überwachungsgesamtrechnung – Wie der Staat Bürger überwacht" der Friedrich-Naumann-Stiftung
- 2021-03-07, netzpolitik.org:Studie: Das Ausmaß der Überwachung ist belegt